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Entrepreneurship und neue Technologien: Von der Vorhersage der Zukunft hin zur Gestaltung der Zukunft.

“Was ist unsere Motivation, was inspiriert uns?”, diskutiert Stephen mit seinem Teamkollegen. “Der Grund ist der Beitrag, den wir leisten wollen. Unser Beitrag zur Welt und zur Zukunft. Es geht um was Neues. Wir wollen die Welt beeinflussen und wir wollen mit unserer App Glück schaffen. Also, lasst uns unsere Technologie für etwas Neues nutzen. Ich glaube daran, und ich weiss, dass wir damit in Zukunft eine bessere Welt schaffen können.”

Tech-Entrepreneur:innen wie Stephen beginnen mit nichts als einer Idee in einem Pitch Deck, die sich im Laufe der Zeit zu einem Unternehmen entwickeln soll. Indem sie ihre digitalen Geschäftsmodelle dann weiterentwickeln, versuchen sie, ein erfolgreiches Unternehmen in der Zukunft zu erschaffen. In diesem Prozess ist die Zukunft ein immer wiederkehrendes Thema, da sie ständig darüber diskutieren, wie die Zukunft aussehen könnte und wie sie sie beeinflussen könnten. Während unserer ethnographischen Forschung in einem Startup-Accelerator in den letzten zwei Jahren haben mein Team und ich uns mit den Themen Zeit und Zeitlichkeit beschäftigt, wie zum Beispiel das Phänomen der “Akzeleration” (Skade et al., 2020).

Die Gestaltung der Zukunft ist essentiell für den Prozess des unternehmerischen Schaffens, einem praxistheoretisch fundierten Verständnis von Entrepreneurship (siehe Johannisson, 2011). Gerade in der heutigen Zeit stellen wir uns die Frage, was wir aus der Pandemie für die Zukunft auf gesellschaftlicher und politischer Ebene lernen können; wir erleben einen anhaltenden Klimawandel und zusammenhängende Initiativen wie “entrepreneurs4future,” sowie aufkommende Herausforderungen wie den negativen Einfluss digitaler Technologien auf die Demokratie. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die immer wieder die dramatische Notwendigkeit aufzeigen, das Kommende zu verstehen und die erklären, warum Entrepreneur:innen kreativ versuchen, negative Unsicherheiten durch den Einsatz von Technologien zu bewältigen.

Zukunftszeichen: Ist die Zukunft ein Fix-Zustand oder wird sie noch geschrieben? Quelle: Unsplash / Max Böhme.

In diesem Sinne stehen neue Technologien wie KI, maschinelles Lernen, Big Data, digitale Plattformen, Blockchains und andere heute im Mittelpunkt des Interesses von (Tech-) Entrepreneur:innen und gewinnen damit zunehmend an Bedeutung für die Art und Weise wie sie Geschäfte machen. Manchmal bieten Entrepreneur:innen diese Technologien als Produkte und Dienstleistungen für ihre Kunden an, doch oft verschmelzen solche Technologien selbst mit dem Prozess des unternehmerischen Schaffens, wenn die Entrepreneur:innen sie in ihrer tägliche Praxis verwenden. Infolgedessen verlassen sich Startup-Gründer:innen auch auf neue Technologien und setzen diese ein, um ihre Zukunft zu gestalten. Wie also geschieht diese “Zukunftsgestaltung” in der Welt der Tech-Entrepreneur:innen?

Die Zukunft vorhersagen

Hannah: “Und wir können nur starten, wenn die Finanzierung schon steht?”

Coach: “Ja, man muss das nachweisen; auch mit einem Businessplan, der zeigt, dass Umsatz reinkommt – aber ich weiss, dass das für ein junges Unternehmen schwierig ist. Es ist wie der Versuch, eine Kristallkugel zu benutzen. Vieles ist noch unklar.”

Hannah: “Ist das für uns möglich? Können wir unseren Businessplan einreichen und vorhersagen wie die ersten Umsätze aussehen werden?”

Coach: “Das ist möglich, aber vielleicht bekommt ihr nur eine bedingte Finanzierung, die ihr zurückzahlen müsst. Aber ihr müsst einen Plan vorlegen.”

Prognosen, Planungen, das Erstellen von Businessplänen und Marktanalysen sind alles Mittel, die Entrepreneur:innen einsetzen, um die Zukunft vorauszusagen. Diese Werkzeuge und Techniken basieren jedoch auf der Annahme, dass die Zukunft ein ferner, aber gleichbleibender Zustand ist, den Entrepreneur:innen beschreiben, sich annähern, verstehen und folglich vorhersagen können, wenn die technologischen Werkzeuge nur fein genug abgestimmt und genau genug sind. Nehmen wir das Beispiel der neuen Technologie von Big Data. Einige der ersten Stimmen habe vorgeschlagen, die Zukunft durch den Einsatz dieser Technologie vorherzusagen, und die Vorteile scheinen überzeugend zu sein. Eine solche Technologie ermöglicht die Investition von nur wenigen finanziellen Mitteln im Gegenzug zu hohen Erträgen: die Vorhersagekraft von Daten. Diese Macht kann für Marketingfragen, Analysen zur Marktvorhersage und andere makroökonomische Fragestellungen mobilisiert werden, um das Startup in einem unsicheren Umfeld zu navigieren. Während ein ordentlicher Businessplan und die Kenntnis des jeweiligen Marktes natürlich wichtige Wege sind, um eine Early-Stage-Idee für Angel-Investor:innen oder VCs zu legitimieren, ist eine solche Perspektive dennoch problematisch. Indem man sich einem linearen Zeitverständnis verschreibt, das die Zukunft als etwas sieht, das sich unweigerlich entfaltet, und sich ausschließlich auf eine solche Technologie verlässt, werden Entrepreneur:innen möglicherweise von einer tieferen Auseinandersetzung mit der proaktiven Gestaltung der Zukunft abgehalten.

Die Zukunft kontrollieren

Markus erzählt mir, dass er in seinem Leben überhaupt nicht über die Zukunft nachzudenkt. Er sagt, dass er im Jetzt lebe. Ich finde das eine interessante Aussage für einen Unternehmer. Müssen diese nicht an die Zukunft denken, um Ihr Startup aufzubauen? Wenn man nur im Hier und Jetzt lebt, wie kann man dann strategische Entscheidungen treffen? Aber Markus erklärt, dass er im Hier und Jetzt lebe und dies auch anderen Unternehmern empfehlen würde. Was in der Zukunft passiert, kann er im Moment noch nicht sagen. Aber er weiss, was er kann, und er hat seine Verbindungen, die ihm bei seinem Startup helfen können. “Ich weiss nicht, was passieren wird, aber ich weiss, was ich heute dafür tun kann, um die Zukunft weniger unsicher zu machen.”

Als Alternative zur Vorhersagung der Zukunft betrachten einige Entrepreneur:innen die Zukunft nicht als etwas, das ihnen “passiert”, sondern als etwas, das sie “kontrollieren” können, indem sie sich darauf konzentrieren, “wer sie sind, was sie wissen, wen sie kennen”, also auf die kontrollierbaren Aspekte einer unvorhersehbaren Zukunft (Sarasvathy, 2001). Entrepreneur:innen, die versuchen, die Zukunft zu beeinflussen, indem sie auf die Ressourcen im Hier und Jetzt zurückgreifen, versuchen, ihre Zukunft proaktiv zu beeinflussen. Während sie wissen, dass die Zukunft unvorhersehbar ist und es daher auch nicht möglich ist, Vorhersagen über die dynamische Entfaltung der Zukunft zu machen, hebt diese Perspektive hervor, dass es dennoch bestimmte Elemente in der Gegenwart gibt, die Entrepreneur:innen kontrollieren können. Denken man zum Beispiel an Entrepreneur:innen, die soziale Medien wie LinkedIn nutzen, um zu erkunden, “wen sie kennen” und um ihre Netzwerke auszubauen, um sich weiter mit Akteuren des Ökosystems unternehmerisch zu verbünden, ihre Geschäftsbeziehungen zu erweitern oder die Ideen anderer Unternehmer:innen kennenzulernen und somit zu versuchen, ihre Zukunft zu kontrollieren. Denkt man nun an Markus, den Unternehmer, der gerade damit beginnt sein Unternehmen aufzubauen, das auf neuer Technologie basiert. Während ein solcher Ansatz vielversprechend erscheint, birgt er jedoch auch den Mangel, dass er von einer relativ stabilen Zukunft ausgeht. Unternehmer:innen mögen mit der Annahme starten, dass sie die Zukunft “kontrollieren” können, weil sie eine gewisse Unsicherheit reduziert haben, aber was passiert, wenn die Zukunft “außer Kontrolle” gerät? Die Reduktion der Komplexität der Zukunft zu erreichen, indem man sie auf eine Reihe kontrollierbarer Variablen herunterbricht, birgt das Risiko, die eigenen Fähigkeiten mit unvorhersehbaren Ereignissen umzugehen, zu überschätzen.

Daten: Welche Möglichkeiten haben Entrepreuner:innen ihr eigene Zukunft zu gestalten, zum Beispiel mit neuen Technologien, wie KI, machinelles Lernen oder ‘big data’? Quelle: Unsplash / Markus Spiske.

Die Zukunft gestalten

Nach dem Meeting mache ich mich auf den Weg, um mit Stephen über sein Startup und die Arbeit seines Teams zu sprechen. Ich bin neugierig zu erfahren, wo er und sein Team gerade stehen und wie sich ihr Startup entwickelt. Als ich an seinen Schreibtisch trete und das Gespräch beginne, ist er begeistert und zeigt mir eine Liste mit Ideen, an denen er gerade arbeitet. “Es geht immer um Probleme und darum, Lösungen für diese Probleme zu finden”, erklärt er. “Der Markt muss nicht einmal interessant sein; er kann interessant werden. Wir machen ihn interessant.” Er denkt sogar noch weiter und sagt, dass er nicht unbedingt in seinem ursprünglichen Markt bleiben muss. Das Gleiche gilt für die Technologie, die er gerade entwickelt hat; er sieht sie nicht als gottgegebene Sache. Er ist immer offen für neue Dinge und blickt in eine offene Zukunft. Sein Mitgründer ist solchen Gedanken gegenüber etwas zurückhaltender und hängt mehr an der bestehenden App-Technologie und möchte sie beibehalten.

Das Verständnis des performativen Charakters neuer Technologien bietet die Möglichkeit, sich weiter mit den Mitteln und Wegen zu beschäftigen, mit denen Entrepreneur:innen sich Zukünfte vorstellen, erschaffen und reproduzieren. Berühmte Unternehmer wie Reid Hoffman, Mitbegründer von LinkedIn, haben daher betont, dass “Unternehmer die Zukunft schaffen werden”, was die wachsende gesellschaftliche Bedeutung von Unternehmer:innen unterstreicht. Sich von der Vorstellung zu lösen, dass die Zukunft etwas ist, das den Entrepreneur:innen lediglich passiert, und somit die Zukunft als “problematische Kategorie” zu begreifen, die “unwissbar” ist (Wenzel et al., 2020), hilft uns, die Zukunft als etwas Neues zu denken, mit dem sich Entrepreneur:innen kritisch auseinandersetzen, das sie anstreben und bewusst gestalten müssen. Die Problematisierung der Zukunft eröffnet eine alternative Möglichkeit, sich ungewisse Dinge, die kommen werden, vorzustellen und anzustreben. Im Gegensatz zur Vorhersage oder Kontrolle der Zukunft bedeutet dies, dass sich Entrepreneur:innen mit möglichen alternativen Zukünften und “zukunftsgestaltenden” Praktiken auseinandersetzen, als “die spezifischen Wege, auf denen Akteure die Zukunft produzieren und umsetzen” (Wenzel et al., 2020, S. 1443, Wenzel, 2021). Wichtig ist, dass eine solche Perspektive zwar auch Praktiken wie Planen und Vorhersagen einbezieht, sich aber auch auf eher mondäne und alltägliche Aktivitäten erstreckt, die nicht beschreiben, was Unternehmer tun sollten, sondern untersuchen, was sie tatsächlich tun, während sie ihre Arbeit organisieren, sich mit Teammitgliedern abstimmen, vor Investoren pitchen oder mit VCs verhandeln (siehe auch Reckwitz, 2002). Auf diese Weise könnte man z.B. Entrepreneur:innen verstehen, die eine digitale Plattform wie Kickstarter nutzt, um Geld von Investor:innen für ein bevorstehendes Projekt zu sammeln. Anstatt sich auf einen bestehenden Markt zu verlassen, könnte eine solche Technologie Entrepreneur:innen dabei unterstützen, einen neuen Markt aufzubauen, der sonst keine anderen Mittel angezogen hätte. Zum Beispiel Stephen, der die Zukunft nicht als selbstverständlich ansieht, sondern sich auf eine offene, ungewisse Zukunft einlässt. Wenn wir erforschen, wie er die Technologie nutzt, können wir sehen, wie er die Zukunft seines Startups gestaltet.

“Die Zukunft ist jetzt”

Zusammenfassend würde ich sagen, dass Entrepreneur:innen ihre Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten und Praktiken richten sollten, die es ihnen erlaubt, ihre Zukunft zu erschaffen, um ihr volles Potenzial zu entfalten. Dazu gehört, den Prozess des unternehmerischen Schaffens auch als eine “zukunftsschaffende” Aktivität zu verstehen, die es Tech-Unternehmer:innen ermöglicht, verschiedene Versionen ihrer Zukunft zu erschaffen, sich vorzustellen und anzustreben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf dieses alltägliche Tun und Sagen lenken, könnte uns dies vor allem bei der Reflexion unserer Forschung helfen. Diese ist notwendig, wenn wir als Wissenschaftler:innen, die die soziale Realität von Entrepreneur:innen versuchen zu verstehen, darüber nachdenken, wie Entrepreneurship, neue Technologien und die Konstruktion und Inszenierung der Zukunft verbunden sind.

Dementsprechend möchte ich auch Forscher:innen dazu ermutigen, Entrepreneur:innen und den Prozess des unternehmerischen Schaffens weiter zu untersuchen. Ich denke, dass mehr ethnographische Arbeit in diesem Zusammenhang notwendig ist, da es besonders wichtig ist, die täglichen Aktivitäten zu untersuchen und zu verstehen, die besagten Gründer:innen bei der Gründung, Entwicklung, Skalierung und dem Ausstieg aus ihrem Unternehmen durchführen. Durch eine solche Forschung könnten wir weiter dazu beitragen zu verstehen, wie das tägliche Tun und Sagen von Entrepreneur:innen es ihnen ermöglicht, ihre Zukunft zu erschaffen und zu verwirklichen. Darüber hinaus können wir, aufbauend auf einem Verständnis der Verschränkung von sozialen und technologischen Praktiken (siehe Orlikowski & Scott, 2008), die Grenzen unseres Verständnisses darüber erweitern, wie neue Technologien mit menschlichen sozialen und kognitiven Praktiken der Zukunftsgestaltung verwoben sind. Eine solche Forschung würde es uns ermöglichen, zwei Arten von KI zu nutzen: künstliche Intelligenz und anthropologische Intelligenz.

Darüber hinaus ist mein Argument, dass eine solche Forschungsarbeit uns dabei helfen kann, unser Wissen über die soziale Realität von Entrepreneur:innen zu erweitern, und es uns Forscher:innen auch ermöglicht, „wünschenswerteren Zukünften“ zu theoretisieren.

Schlußendlich denke ich, dass viele der aktuellen Diskurse über den Einsatz von neuen Technologien wie KI, Big Data, soziale Medien, Plattformen u. a. eher den Wunsch betonen, zu perfektionieren, wie sie Entrepreneur:innen helfen könnten, die Zukunft vorherzusagen. Mein Argument ist aber, dass diese Technologien auch eine wichtige Möglichkeit für Entrepreneur:innen bieten, ihre eigene Zukunft zu produzieren und neu zu gestalten, um sich aktiv in diesen Prozess einzubringen und die performative Kraft der Vorstellung und des Strebens nach Zukunft zu erschließen. Wenn wir die Vorstellung ernst nehmen, dass die Zukunft “unwissbar” ist (Wenzel et al., 2020) und die aktuellen Herausforderungen, denen wir als Gesellschaft gegenüberstehen, wirklich ernstnehmen, sollten wir Entrepreneur:innen den Raum bieten, sich auf der Suche nach Antworten auf einige der drängendsten Fragen unserer Zeit mit alternativen Zukünften zu beschäftigen. Dies könnte der erste Schritt sein, um “eine völlig neue Art und Weise zu schaffen, über die Zukunft zu sprechen, [um] sie zu etwas zu gestalten, das für alle gerecht und nachhaltig ist”.


Referenzen

Johannisson, B. (2011). Towards a practice theory of entrepreneuring. Small Business Economics, 36(2), 135-150.

Reckwitz, A. (2002). Toward a theory of social practices: A development in culturalist theorizing. European Journal of Social Theory, 5(2), 243-263.

Orlikowski, W. J., & Scott, S. V. (2008). 10 Sociomateriality: challenging the separation of technology, work and organization. Academy of Management Annals2(1), 433-474.

Sarasvathy, S. D. (2001). Causation and effectuation: Toward a theoretical shift from economic inevitability to entrepreneurial contingency. Academy of Management Review26(2), 243-263.

Skade, L., Stanske, S., Wenzel, M. and Koch, J. (2020), “Temporary Organizing and Acceleration: On the Plurality of Temporal Structures in Accelerators”, Braun, T. and Lampel, J. (Ed.) Tensions and paradoxes in temporary organizing (Research in the Sociology of Organizations, Vol. 67), Emerald Publishing Limited, Bingley, pp. 105-125. https://doi.org/10.1108/S0733-558X20200000067011

Wenzel, M. (2021). Taking the Future More Seriously: From Corporate Foresight to” Future-making”. Academy of Management Perspectives

Wenzel, M., Krämer, H., Koch, J., & Reckwitz, A. (2020). Future and Organization Studies: On the rediscovery of a problematic temporal category in organizations. Organization Studies41(10), 1441-1455.

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